Goethe in Weimar und Italien: Regieren, Krise, Wiedergeburt

Goethe in Weimar und Italien: Regieren, Krise, Wiedergeburt
Goethe in Weimar und Italien: Regieren, Krise, Wiedergeburt
 
»Regieren!!« schrieb Goethe am 8. Oktober 1777 in sein Tagebuch. Ende 1775 war das Frankfurter Genie auf Einladung des jungen Herzogs Karl August nach Weimar gekommen. Das anfängliche Genietreiben fand ein rasches Ende. Schon bald sah sich Goethe ins Zentrum der Regierungsgeschäfte versetzt. Er wurde Minister im dreiköpfigen »Geheimen Consilium«; nach und nach übertrug ihm der Herzog die Aufsicht über die Bergwerkskommission, die Kriegskommission, die Wegebaukommission und schließlich auch die Leitung der Staatsfinanzen. Goethe nahm seine Amtspflichten mit größter Sorgfalt wahr. Nicht weniger entscheidend für die Disziplin, die sich das Genie auferlegte, wurde die Liebe zu Charlotte von Stein. 1500 Briefe und Billetts an die sieben Jahre ältere, verheiratete Frau bekunden die Tiefe dieser Beziehung, die allen trivialen Enträtselungsversuchen bis heute widersteht. Für die dichterische Produktion blieb wenig Spielraum. Wohl entstanden wieder, rasch hingeworfen, Stücke für das Liebhabertheater, darunter die Prosafassung der »Iphigenie«, die mit Goethe (Orest) und Corona Schröter (Iphigenie) in den Hauptrollen aufgeführt wurde, mit »gar guter Würkung. .. besonders auf reine Menschen«. Doch die Frankfurter Fragmente, »Faust« und »Egmont«, rückten nicht oder kaum voran, und große neue Werke, »Wilhelm Meister«, »Tasso«, »Die Geheimnisse«, blieben in Ansätzen stecken. Entschieden meldeten sich naturwissenschaftliche Interessen. Sie führten zur Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen und zum großartigen Aufsatz »Über den Granit«. Gemeinsam mit Herder und Frau von Stein vertiefte sich Goethe in das Studium Spinozas, den er rückhaltlos seinen »Heiligen« nannte.
 
Ein neuer Geist ergriff die Dichtungen. Die »ungeheure Opposition« der Titanen waltet zwar noch »im Hintergrunde« der »Iphigenie«. Doch wird sie in eine Humanität zurückgenommen, die sich mit den Göttern versöhnen kann, weil sie selbst die Verantwortung für ihr Handeln und damit für das Bild der Götter übernimmt. Der vom Fluch seines Geschlechts zerrüttete Orest wird geheilt, indem er die Rebellion des Prometheus widerruft und - wie das Gedicht »Grenzen der Menschheit« - die »gnädig-ernsten« Götter und ihren »Segen« annimmt: »Wenn der uralte / Heilige Vater / Segnende Blitze / Über die Erde sät, / Küss' ich den letzten / Saum seines Kleides, / Kindliche Schauer / Treu in der Brust.« Die Überarbeitung des »Werther« verstärkt die pathologischen Tendenzen des Helden, der in seine weltlose Innerlichkeit abstürzt, und damit die Distanz, die der Weimarer Goethe gegenüber dem empfindsamen Idol einnimmt. Nichts bekämpft der Weimarer Goethe heftiger als den Hang zur hypochondrischen Selbstquälerei, den er allenthalben wahrnimmt, in der Melancholie der Weggefährten des Sturm und Drang, im sentimentalen »Jammer« Rousseaus, in den tränenreichen Larmoyanzen der Empfindsamen. Auch der »Tasso«, der »gesteigerte Werther«, zeigt die Spuren dieses Kampfes, den Goethe nicht zuletzt mit sich selbst austrägt. Die pathologischen Züge des Genies werden nicht verschwiegen, die »Disproportion des Talents mit dem Leben« nicht zugunsten des Genies und nicht gegen die höfische Gesellschaft ausgemünzt - am Ende steht eine tragische Balance. In Frauenfiguren wie der Prinzessin im »Tasso«, der Iphigenie oder auch der Natalie des »Wilhelm Meister« huldigt Goethe Frau von Stein und ihrer stillen Macht.
 
Nach zehn Weimarer Jahren befiel Goethe eine Lebenskrise, der er sich durch die Flucht nach Italien entzog. Seine Äußerungen grenzen an Verzweiflung: »ich kämpfte. .. mit Todt und Leben und keine Zunge spricht aus was in mir vorging«. Vieles trug dazu bei: das hoffnungslose Verhältnis zu der geliebten Frau, die drückenden und nur selten Erfolg verheißenden Amtsgeschäfte, das Stocken der poetischen Produktion, wie es das Projekt einer achtteiligen Gesamtausgabe, das er mit dem Verleger Göschen beschloss, besonders drastisch bemerkbar machte. Italien war das alte, schon vom Vater geerbte Ziel von Goethes Sehnsucht. Was er suchte und fand, war ein neues Fundament seiner Existenz. Genesung nannte er das, Selbstfindung, Glück, neues Leben und, immer wieder, Wiedergeburt. Triumphal heißt es in Rom: »ich bin wirklich umgeboren und erneuert und ausgefüllt«. »In Rom hab' ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden«.
 
Als Goethe am 3. September 1786 aufbrach, war nur der Herzog eingeweiht, nicht aber Frau von Stein. Am 29. Oktober traf er in Rom ein, der »Hauptstadt der Welt«. Im Frühjahr 1787 reiste er über Neapel nach Sizilien. Vom Juni 1787 bis zum April 1788 hielt er sich wieder in Rom auf. Italien wurde ihm zu einer Schule des Sehens und Erkennens. »Ich lebe sehr diät und halte mich ruhig damit die Gegenstände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen«, heißt es schon früh im Tagebuch für Frau von Stein. Den Erfolg dieser Schulung bezeugt wohl am eindrucksvollsten die Äußerung aus Rom vom 6. September 1787: »Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.« Die Sätze klingen an Herders Spinoza-Gespräche mit dem Titel »Gott« an, die Goethe zu seinem Geburtstag erreicht hatten. Rom bot die Erfüllung.
 
Kunst, Natur und Gesellschaft waren die »drei großen Weltgegenden«, die der italienische Goethe für sich erforschte. Was ihn leitete, war die Suche nach dem Gesetzlichen, Notwendigen, Urbildlichen. Das Erlebnis großer Kunst begann mit den Bauten Palladios in Vicenza und Venedig. In Rom fesselten ihn immer wieder die antiken Monumente, Peterskirche und Sixtinische Kapelle, die Fresken Raffaels, der Apoll vom Belvedere, die Kolossalbüsten des Zeus von Otricoli und der Juno Ludovisi. In Paestum, Segesta und Agrigent stand er, nicht ohne Scheu, vor originalen griechischen Tempeln. Das Angebot einer Reise nach Griechenland nahm er nicht an. Er kultivierte sein Zeichnen und schulte sich im Modellieren, bis er erkannte, »dass ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin«. Die »Iphigenie« in Versform und der »Egmont« wurden abgeschlossen. Prägnant formulierte der Heimgekehrte das objektive, klassische Kunstprogramm in der kleinen Schrift »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil«: Der klassische »Stil« ruht »auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge.« Den Naturbeobachter begleitete die Idee der »Urpflanze«. Im öffentlichen Garten von Palermo glaubte er sie, »die alte Grille«, mit Augen zu sehen. Im »Blatt« und seiner Metamorphose erblickte er »die ursprüngliche Identität aller Pflanzenteile«. Der »Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären« und das Lehrgedicht »Die Metamorphose der Pflanzen« führten die Idee später aus. Der Beobachter des Volkslebens suchte die Bildungsgesetze der Gesellschaft unter den Bedingungen der italienischen Natur. Das wichtigste Resultat ist der Bericht »Das römische Karneval«, der noch im tumultuarischen Verlauf des Straßenfestes »die wichtigsten Szenen unsers Lebens« wahrnimmt, die »Wege des Weltlebens«, aber auch, in merkwürdiger Vorwegnahme der französischen Revolution, »dass Freiheit und Gleichheit nur in dem Taumel des Wahnsinns genossen werden können«.
 
Erotische Erfüllung feiern die »Römischen Elegien«, die zwischen 1788 und 1790, im Anschluss an die Italienreise, entstanden sind. Antik in Form und Gehalt, folgen sie römischen Vorbildern, den »Triumvirn« Catull, Properz und Tibull, verzichten sie auf alle »nordischen« und modernen Sehnsüchte und Liebesleiden zugunsten des gegenwärtigen Glücks. Doch weniger römische Erlebnisse spiegeln sich darin als die neue Beziehung zu Christiane Vulpius, der Goethe nur wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus Italien begegnet ist.
 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
 
 
Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 21998.
 
Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740—1789, Beiträge von Sven Aage Jørgensen u. a. München 1990.
 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Johann Wolfgang Goethe. München 1991.
 Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Band 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution. 1789—1806. Band 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration. 1806—1830. München 1983—89.

Universal-Lexikon. 2012.

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